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„Strategisch wichtige Sektoren erhalten strukturelle Unterstützung, was für Anleger interessant ist“

Das Streben der Europäischen Union nach mehr strategischer Unabhängigkeit ist kein versteckter Protektionismus, sagen Jürgen Verschaeve, Chief Investment Officer, und Jeroen Van Boeckel, Anlagestratege bei KBC Asset Management. „Wenn es sich um eine rein politische Überlegung handeln würde, läge der Schwerpunkt auf der Rückverlagerung von Industriesektoren mit hoher Beschäftigung.“ 

Wir leben in einer multipolaren Welt. Das bringt viele Herausforderungen, aber sicherlich auch Chancen mit sich. Strukturelle Trends haben mittel- bis langfristig einen erheblichen Einfluss.

Jeroen Van Boeckel, Anlagestratege bei KBC Asset Management


 

Im Jahr 2016 übernahm das chinesische Unternehmen Midea den deutschen Roboterhersteller Kuka für 4,5 Milliarden Euro. Dies sorgte seinerzeit für viel Aufsehen, weil es sich um eine so genannte strategische Technologie handelte. „Ich bin sicher, dass Deutschland diesen Verkauf heute nicht mehr zulassen würde“, so Verschaeve .

 Dies verdeutlicht, wie sehr die Bedeutung der strategischen Unabhängigkeit zugenommen hat. Hierfür gibt es gute Gründe. Man denke nur an die Corona- andemie, die die Anfälligkeit der globalen Versorgungsketten offenbart hat, oder an die schmerzhafte Abhängigkeit von russischem Gas bei Ausbruch des Krieges in der Ukraine. 


 

Offene strategische Unabhängigkeit

Die Globalisierung ist nach wie vor eine Realität, aber vielleicht nicht mehr so ungezügelt wie noch vor 15 Jahren. „Ein wichtiger Effekt der Globalisierung ist, dass die Produktionsketten billiger geworden sind“, sagt Verschaeve. „Die Sicherung oder Rückverlagerung der Produktion auf den heimischen Markt aufgrund nationaler strategischer Interessen wirkt sich aufgrund der höheren Kosten negativ auf das globale Wirtschaftswachstum aus.“

 Die EU strebt eine offene strategische Unabhängigkeit an. „Natürlich macht es wenig Sinn, mehr Unabhängigkeit für nicht strategische Produkte wie Spielzeug oder Kleidung anzustreben“, legt Van Boeckel dar. „Es geht darum, strategische Sektoren wie erneuerbare Energien und Technologie zu identifizieren, die F&E- Aktivitäten hier zu halten und zu schützen und, wenn möglich, auch die entsprechenden lokalen Produktionskapazitäten zu stärken. Entscheidend für den Erfolg der EU ist, wie gut sie das Gleichgewicht zwischen offener und strategischer Unabhängigkeit halten kann. Im Grunde läuft alles auf die Schaffung einer gegenseitige Abhängigkeit hinaus.“ 


 

Niemand will einen Handelskrieg

Zum Instrumentarium der Politik gehören Importzölle, die es für Unternehmen günstiger machen können, wieder vor Ort zu produzieren, was jedoch nicht ungefährlich ist. „Niemandem ist damit gedient, wenn es zu einem Handelskrieg kommt. Die Maßnahmen sollten sich darauf beschränken, gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen und nicht in sie einzugreifen“, argumentiert Van Boeckel.

Die Europäische Union muss weiterhin die Vorteile des Freihandels außerhalb der EU verkünden, ohne jedoch naiv zu sein.

Jürgen Verschaeve, chief investment officer KBC Asset Management

 

Die EU verdankt ihren Wohlstand zu einem großen Teil ihrem Binnenmarkt, in dem die Handelsschranken zwischen den Mitgliedstaaten beseitigt wurden. „Die Europäische Union muss weiterhin die Vorteile des Freihandels außerhalb der EU verkünden, ohne jedoch naiv zu sein“, so Verschaeve. „Wenn die USA und China Protektionismus betreiben, die EU aber nicht, wird sie zum Opfer ihrer eigenen Prinzipien. Eine mögliche Lösung? Durch Vorschriften werden hohe Qualitätsanforderungen an ausländische Produkte gestellt, wodurch automatisch eine Art Barriere entsteht.“ 

Forschung und Entwicklung

Die EU hat ehrgeizige Pläne für eine größere Unabhängigkeit in strategischen Sektoren, wie die kürzlich entworfenen Richtlinien im Chip-Gesetz und im Datengesetz zeigen. Geht es dabei in erster Linie darum, der eigenen Industrie einen Vorsprung zu verschaffen, oder um die Sicherung wichtiger Erkenntnisse? Letzteres, meint Verschaeve. „Der Schwerpunkt liegt vor allem auf Forschung und Entwicklung, zum Beispiel in den Bereichen Pharma, grüne Technologie und künstliche Intelligenz. Wenn es sich um eine rein politische Überlegung handeln würde, läge der Schwerpunkt auf der Rückverlagerung von Industriesektoren mit hoher Beschäftigung.“ 

„Investitionen in F&E und technologische Innovation tragen dazu bei, den Preis zu senken. Beispiele dafür sind die Robotisierung und Automatisierung. Ein Roboter kann hundert Arbeiter ersetzen. In hypermodernen Autofabriken arbeiten heute ohnehin viel weniger Menschen als früher. Eine solche Stimulierung strategischer Sektoren kann sich negativ auf die alte Beschäftigung auswirken, schafft aber sofort Chancen für andere Profile auf dem Arbeitsmarkt“, stellt Van Boeckel fest.

„Es kommt auch darauf an, die Nischen zu finden“, fügt Verschaeve hinzu. „Meerestechnik oder Biopharma verdienen das Label Made in Europe.“

 

Was der EU nicht hilft, sind innere Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten.  Andere Machtblöcke könnten versuchen, dies auszunutzen. „In einem vereinten Europa sollte es keine Rolle spielen, dass Frankreich von einer Maßnahme profitiert, die für Deutschland nachteilig ist. Aber in der Praxis ist das natürlich nicht so“, sagt Verschaeve. „Bundeskanzler Olaf Scholz reist nicht nach Peking, um dort europäische Interessen zu vertreten, sondern deutsche Interessen.“ 

 

Strategisch wichtige Sektoren verdienen die Aufmerksamkeit der Anleger. Was strukturell durch die Politik in Gang gesetzt wird, lässt sich nicht so leicht wieder rückgängig machen.

Jeroen Van Boeckel, Anlagestratege bei KBC Asset Management


 

 „Wir leben in einer multipolaren Welt. Das bringt eine Menge Herausforderungen, aber natürlich auch Chancen mit sich“, ergänzt er.

„Als Vermögensverwalter treffen wir Entscheidungen nach wirtschaftlicher Logik, aber natürlich spielt auch die Geopolitik eine Rolle“, sagt Van Boeckel. „Die strukturellen Trends haben mittel- bis langfristig erhebliche Auswirkungen. Strategisch wichtige Sektoren verdienen daher die Aufmerksamkeit der Anleger. Was strukturell durch die Politik in Gang gesetzt wird, lässt sich nicht so leicht rückgängig machen. Für einen Chiphersteller oder ein Windenergie- nternehmen beispielsweise sind die Subventionen der EU für die hiesige Produktion eine zusätzliche Einnahmequelle, von der Sie als Anleger also auch profitieren können.


 

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Dieser Artikel ist rein informativ und sollte nicht als Anlageberatung betrachtet werden.